Sandra Euringer
Coaching & Training - Kreativtherapie - Yoga Nidra - Self Care - hub2hub

2022-11-26

Santiago de Compostela

22.11.22
Wir starteten etwas später und ich fühlte mich trotz oder vielleicht gerade wegen des anstrengenden Tages zuvor als wäre ich durch einen sehr wichtigen Reinigungsprozess gegangen. Alles war gut! Tara und ich genossen trotz Regen die wunderschönen von alten Bäumen gesäumten Wege. Mehrere Menschen boten mir unterwegs ihre Hilfe beim Überqueren der Flüsse an oder zeigten mir wieder Bilder ihrer eigenen Hunde, die sie beim Anblick von Tara offensichtlich vermissten.
Ich hatte aufgehört zu fragen, ob Tara in Galicien mit in die Restaurants bzw. Bars durfte und suchte mir einfach solche, die draußen eine Überdachung hatten, damit wir vor Regen geschützt waren.
Ursprünglich wollte ich an diesem Tag deutlich weniger laufen, aber als wir in Mélinde ankamen fühlte es sich einfach nicht nach Bleiben an. Ich setzte mich in eine Cafeteria und kurz darauf kam Alberto an mir vorbei. Wir kannten uns seit Beginn des Caminos. Genauso wie für mich war der gestrige Tag für ihn die bisher größte Herausforderung gewesen; als der Hagel einsetzte hatte er mit dem Gedanken gekämpft, ein Taxi zu bestellen, aber war dann doch weitergelaufen. Er wollte nur noch in Santiago de Compostela ankommen und als ich ihm von meinen Erfahrungen berichtete, schüttelte er nur ungläubig den Kopf.
In 15 Kilometer Entfernung gab es eine Herberge, die auch Einzelzimmer für Pilger anbot und als ich anrief bekam ich ohne Probleme eine Reservierungszusage. Am Abend war außer mir im Restaurant nur noch eine weitere Pilgerin; Debbie aus Australien. Wir kannten uns bisher noch nicht und durch meine zusätzlich gelaufenen Kilometer waren für mich auch die meisten anderen Pilger, denen ich begegnet war, unbekannt. Santiago de Compostela rückte immer näher und in 2 Tagen würden wir angekommen sein. Debbie machte das sehr zu schaffen; sie hatte in den letzten Jahren als Krankenschwester gearbeitet und fühlte sich am Ende ihrer Kräfte. Durch die rigiden Covid-Maßnahmen in Australien hatten einige ihrer Patienten nicht rechtzeitig die verordneten Unterstützungen erhalten können und waren frühzeitig gestorben. Sie erklärte mir, dass auch die sonst üblichen Evaluierungen, die nach der Durchführung neuer Maßnahmen stattfinden würden, im Falle der eingesetzten Corona-Regulierungen nicht durchgeführt worden waren. Als sie zu ihrem Hausarzt gegangen war, um sich Schlaftabletten verschreiben zu lassen, hatte er ihr gesagt, dass sie die 12 Krankenschwester innerhalb einer Woche sei, die ihn darum bat. Das sei keine Lösung!  Daraufhin hatte sie einen Antrag auf eine in Australien übliche längere berufliche Auszeit gestellt und ihre Chefin hatte es sofort gestattet, da ihr klar war, dass sie sonst kündigen würde.
Nur hatte sich das Problem auf dem Camino nicht gelöst. Sobald sie über ihre Arbeit sprach, brach sie in Tränen aus.
Aber es gab niemanden, der sie zwang zurückzukehren. Ihr Mann, mit dem sie täglich telefonierte, hatte großes Verständnis, ihre Kinder waren bereits erwachsen und finanziell konnte sie sich eine längere Auszeit nehmen, bis sie sich beruflich neu orientiert hatte. Und Ideen, auf was sie Lust hatte, gab es bereits. Sie hatte einfach erwartet, dass der Camino dazu führen würde, dass sie wieder wie früher funktionierte. Aber der Camino hatte ihr offensichtlich eine andere Antwort gegeben.

23.-25.11.22
Trotz Regenvorhersage schien die meiste Zeit die Sonne während ich Santiago de Compostela immer näher kam. Seit meinen unfreiwilligen zusätzlich gelaufenen Kilometer war ich auch auf dem letzten Stück auf keine bekannten Gesichter getroffen. Obwohl es keine feste Gruppe war, war das Miteinander doch sehr vertraut gewesen.
Meine eigenen Fragen hatten sich auf dem Camino beantwortet und ich war wieder raus aus dem Denken rein ins Fühlen gekommen… ins Annehmen, Vertrauen und die tiefe Verbundenheit mit mir selbst und einer Freude, die zwischendurch einfach untergegangen war. Es war alles bereits da, in mir und s war alles genau richtig, so wie es war.
Mir fiel der Satz von Otto Scharmer ein: „Wenn du ein System verändern willst, musst du es zuerst (er-) spüren!“
Am 24. startete ich morgens im Regen die letzten 10 Kilometer. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch keine Ahnung was nach Santiago kommen sollte, aber das würde sich finden.
Ich kam kurz nach 10 Uhr in der Altstadt an und folgte den letzten Jakobsmuscheln bis zur Kathedrale. Die Stadt und auch der Platz vor der Kathedrale waren kaum besucht und ich lief gleich zum Pilgerzentrum weiter, um mir meine Compostela, die traditionelle Pilgerurkunde, ausstellen zu lassen. Früher musste ich dafür ein Ticket ziehen, da die Warteschlangen oft Stunden dauerten. Aber zu dieser Zeit war alles leer. Ich glaube die Galicier haben tatsächlich ein Hundeverdrängungsproblem, denn als ich mit Tara kam, wurde mir sofort von den Mitarbeitern Hilfe angeboten und innerhalb von wenigen Minuten durfte ich mit meiner Compostela und Tara wieder gehen, ohne auch nur einen Schalter gesehen zu haben.
Als erstes ging ich frühstücken und kurz darauf kam Alberto vorbei. Ich erkannte ihn kaum, so strahlte er. Er war überglücklich und stolz auf sich und vor allem froh nicht mehr laufen zu müssen. Nach dem Frühstück setzte ich mich auf den Praza do Obradoiro vor der Kathedrale und dann füllte sich der Platz mit Touristen aber auch immer mehr Pilgern. Viele, die mich auf meinem Weg begleitet hatten, erreichten ihr Ziel. Es fühlte sich wie ein großes Treffen von alten Freunden an. Es wurde viel fotografiert, auch viel geweint und vor allem wurde Tara ausgiebig gekuschelt. Es kamen auch Touristen, die entweder ihre eigenen Hunde vermissten und mir ihre eigenen Hundebilder zeigten oder einfach nur wissen wollten wieviele Kilometer Tara gelaufen war. Wir verbrachten Stunden auf dem Platz. Sowohl am ersten als auch am zweiten Tag. Am Abend des 24. saßen Zrinka, Maria, Anne, Maurice, Barbara und ich dicht gedrängt auf einer Bank in der Kathedrale und feierten gemeinsam die Pilgermesse und danach das Ende des Caminos … es war etwas Besonderes und ich war sehr dankbar für ihre Gemeinschaft. Als ich sie fragte, was sie von dem Camino mit nach Hause nehmen würden, war es bei allen in irgendeiner Form die Erkenntnis, die eigenen Bedürfnisse wichtiger zu nehmen und sich auf das zu konzentrieren, was ihrem Leben Bedeutung gibt.
Immer wieder tauchten in den 2 Tagen weitere Gesichter der vergangenen Wochen auf und manchmal war es auch nur für eine kurze Umarmung. Am 25. kam auch Sean an und wir lagen gemeinsam mit den anderen vor der Kathedrale in der Sonne, es fühlte sich schon fast nach australischer Strandstimmung an. Und gleichzeitig war es auch ein Abschied, ein Loslassen von der gemeinsamen Zeit.
Und für mich war es auch ein Öffnen, für das was noch entstehen wollte. Ich hatte beschlossen nach dem Camino endlich eine Woche Auszeit vom Laufen zu nehmen und mir einen Mietwagen für den nächsten Tag bestellt, um mit Tara nach Burgos zurück zu meinem Auto zu fahren. Danach wollte ich entweder weiter zu den Picos de Europa oder nach Sintra in Portugal… sobald ich in Burgos war, würde ich wissen, wohin es als nächstes gehen würde.

Admin - 09:54:10 | Kommentar hinzufügen

Am 26.09.22 geht es los...

Gästebuch

Michael Fetzer
12.10.2022 18:15:22
Ups, da machst du ja 'Erfahrungen' im Sauseschritt!
Zum Glück scheinst du koerperlich noch so fit, deine Reise fortsetzen zu koennen. Und vermutlich bist du in dir schon an Punkte gelangt, wo du bisher gar nicht wusstest, dass es sie gibt...
Und ein (oder mehrere) aussergewoehnlicher Schutzengel scheint dich zu begleiten. Gut zu wissen.
Weiterhin gutes Gelingen und auf einen Austausch, der wahrscheinlich Tage dauert :-)
Michael Fetzer
02.10.2022 14:44:04
Hallo liebe Sandra, wahrscheinlich eignet sich Norwegen wie kaum ein anderes Land, im Durchwandern zu sehen - gehen zu lassen - sich erinnern - loszulassen...
Sehen, erspüren, hinein- und hinausgehen. Der Prozess von Lebendigkeit ein- und ausatmen. Sich einlassen, im Tun die Wirkung erfahren und zu neuen Horizonten aufbrechen.
Eigentlich alles ganz einfach :-)

Schön, dass du dir Zeit und Raum nimmst, wieder tiefer einzutauchen: in dich, deine Fragen, deine Schritte, deine Wünsche, deine Perspektiven.
Egal was kommt, es wird gut!
Stärkende Grüße, Michael