Sandra Euringer
Coaching & Training - Kreativtherapie - Yoga Nidra - Self Care - hub2hub

2022-11-08

Beobachten und sein…

6.11.22
Am Abend zuvor hatte ich mich mit den anderen Pilgern in der einzigen Bar im Dorf zum Abendessen mit Livemusik getroffen. Es war so selbstverständlich wieder miteinander ins Gespräch zu gehen – in Gespräche, die authentisch und bedeutend waren. Denn dafür waren die meisten offensichtlich hier. Was wäre, wenn wir immer so offen miteinander ins Gespräch gehen würden? Uns aufrichtig zuhören und genauso aufrichtig miteinander teilen würden, was uns gerade bewegt? Vermutlich gäbe es keine Wartelisten mehr für Therapeuten. Aus meiner Wahrnehmung sind Novemberpilger nach Corona auch nochmal anders, als Sommerpilger. Viele sagten mir, dass der Camino nach dem Lock down für sie der einzige Ausweg war, um wieder ein normales Miteinander erfahren zu können. Alberto, ein Italiener in meinem Alter, meinte, er müsste sich oft zum Weiterlaufen zwingen und ihm würde alles wehtun aber er spürt, dass es das einzig Richtige war, was er jetzt tun könnte. Neben mir saß ein junger Däne und sein Freund, mit dem er gestartet war, saß ihm gegenüber. Er fragte mich ganz direkt warum ich hier sei und erzählte dann auch von sich: er hatte während Corona starke Depressionen bekommen, hatte sich von seiner Freundin getrennt und war völlig isoliert gewesen. Seinem Freund liefen plötzlich Tränen übers Gesicht, gleichzeitig strahlte er. Die beiden spanischen Tenöre, die für die Livemusik sorgten, hatten sich im Raum verteilt und sangen voller Hingabe und der Raum war erfüllt von ihrer Musik. Der Däne meinte, er würde sonst nicht weinen, aber er sei so berührt, das würde jetzt einfach so passieren. Und es war offensichtlich für alle völlig in Ordnung; es war normal, wieder berührt sein zu können.
Auch mit Martina, meiner jungen „Herbergsmutter“ hatte ich davor ein sehr intensives und schönes Gespräch geführt, in dem es über ihre Zukunft ging. Sie nahm eine Auszeit, um sich beruflich neu zu orientieren und hatte beschlossen, dabei als Herbergsmutter andere zu umsorgen. Am Ende unseres Gespräches war sie zu mir gekommen und hatte mich umarmt. Und das war ebenso völlig stimmig gewesen obwohl wir uns noch nicht lange kannten. Auf dem Camino gibt es wieder Begegnungen, die in unserem Alltag so sehr fehlen.
Und mit einem Gefühl von tiefem Vertrauen war ich auch am Morgen in der 10 km entfernten Herberge angekommen und hatte den Herbergsvater gefragt, ob er wüsste welche der nächsten Herbergen für Pilger mit Hunden geöffnet hätte und er hatte sofort begonnen herumzutelefonieren und hatte in weiteren 20 km eine Herberge für mich organisiert – einfach so – ohne großen Aufwand.
Am Nachmittag hatte ich Zeit, um alleine zu laufen, denn die meisten anderen waren bereits im Ort 10 km vor meiner Zielherberge geblieben. Ich fühlte so eine tiefe Dankbarkeit und Freude, ein Getragen sein und völliges Annehmen. Daran änderte auch das kalte Duschwasser der Herberge nichts – es war völlig in Ordnung bei knapp über 0 Grad kalt zu duschen – da war kein Widerstand in mir, einfach nur Freude.

7.11.22
Annehmen was ist – auch wenn es weh tut. Die beiden Tage zuvor waren für meine Füße zu viel gewesen und bereits in der Nacht war ich mit Schmerzen und roten Schwellungen an den Fersen aufgewacht. Ich beschloss an diesem Tag nach knapp 20 km in der mit Hundeübernachtungsmöglichkeiten ausgezeichneten Herberge, die laut Buen Camino App noch geöffnet haben sollte, zu bleiben. Aber als ich ankam, war alles völlig verlassen. Weder auf meine Anrufe noch Nachrichten bekam ich eine Antwort. Ich rief in der nächsten Herberge an, aber auch sie hatte bereits geschlossen. Lust auf Zelten hatte ich immer noch nicht, dafür war es morgens auch mittlerweile sehr kalt. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte und wollte mit meinen Schwellungen auch nicht noch weitere 20 km laufen müssen. Da tauchte plötzlich ein gelber Lieferwagen auf dem Grundstück auf und eine Familie mit einem Sohn im Teenageralter stieg aus. Ich lief auf sie zu und fragte sie nach einer Übernachtungsmöglichkeit, aber sie schüttelten nur den Kopf: alles war bereits geschlossen. Ich sollte es bei der nächsten Herberge versuchen. Als ich ihnen sagte, dass diese auch bereits geschlossen hatte und ich nicht wüsste, wo ich mit meinem Hund übernachten sollte, kam Tara tänzelnd auf uns zugelaufen und begrüßte die Familie. Und damit war unsere Übernachtung gerettet. Wir bekamen eine wunderschöne Unterkunft und ich fiel ins Bett und schlief sofort ein. Es war gerade mal Nachmittag, aber offensichtlich brauchte mein Körper jetzt mehr Schlaf.

8.11.22
Ich hatte als einzige Pilgerin auf der Farm übernachtet und so lief ich die meiste Zeit des Tages alleine. Irgendwann kommt beim Pilgern der Punkt, an dem schmerzhafte Erinnerungen auftauchen: meiner war heute. Die Schwellungen in den Fersen passten dazu und ich ließ mich darauf ein. Nicht umsonst beschrieb ich die Schmerzen in meinen Trainings wie eine kostbare Schatzkiste. Wichtig war, von den Schmerzen und den Erinnerungen nicht davon getragen zu werden, sondern in der Position der Beobachterin zu bleiben und dabei liebevoll mit mir selbst zu sein.
Auf die Frage, warum ich auf dem Jakobsweg war, hatte ich anfangs eher sachlich geantwortet, dass ich nach dem Schulabschluss meines jüngsten Sohnes und Corona eine Auszeit auf dem Teil des Caminos machte, auf dem ich vor 19 ½ Jahren zum ersten Mal gelaufen war. Aber es ging um viel mehr. Es ging darum, ein Kapital meines Lebens abzuschließen und auch die Wunden zu heilen. Vor 19 ½ Jahren war ich auf dem Camino gelaufen, als bereits feststand, dass ich mit meiner Familie nach Australien auswandern würde. Wir hatten dort später 12 Jahre gelebt, ein Haus gekauft, renoviert, wir hatten die australische Staatsbürgerschaft zusätzlich zu unserer deutschen angenommen und ich hatte mich zum ersten Mal in meinem Leben sehr sesshaft gefühlt. Meine Kinder fühlten sich als Australier, die Schule lief gut … und wenn ich ehrlich war, hatte ich mir die ganze Zeit eine heile Welt vorgespielt.
Bereits vor 19 Jahren hatte mich mein damaliger Mann für eine Woche auf dem Camino besucht. Ursprünglich wollten wir wegen meiner Schwangerschaft einfach eine Woche am Jakobsweg gemeinsam Urlaub machen, aber ich hatte ihm so begeistert von meinen Erfahrungen auf dem Jakobsweg erzählt, dass wir beschlossen, in dieser Woche gemeinsam auf dem Camino zu laufen.
Es sollte die anstrengendste Woche meines Caminos werden. Obwohl ich vorher mit meinem ältesten Sohn einen sehr guten Rhythmus gefunden hatte und wir trotz vieler Spielpausen gut vorangekommen waren, fehlte der gemeinsamen Rhythmus zu dritt bzw. zu viert, denn ich wiegte meinen jüngsten Sohn im mittlerweile 6. Monat ja bereits mit. Er gab ein anderes Tempo vor und dem konnte ich nicht folgen, v.a. am Berg nicht. Auf die Idee, dass er sich auf unser Tempo hätte einstellen können, kam er gar nicht und ich versuchte damals einfach mein Bestes, um mitzuhalten. Vorher hatte alles gepasst, jetzt passte nichts mehr, denn ständig gab es etwas, das er kritisierte. Ich kann es jetzt im Rückblick sehen, aber damals konnte und wollte ich es nicht. Es hatte gefühlt unendlich lange gedauert, bis ich unsere Familie in Frage stellte.
Vor einem Jahr waren wir nach einer Beziehung, die 29 Jahre vorher begonnen hatte, geschieden worden und viele sehr schmerzhafte Erinnerungen kamen jetzt hoch.
Während des Laufens wurde mir bewusst, dass ich die Beobachterrolle nicht halten konnte. Es hatte bisher keinen friedlichen Abschluss gegeben und ich fühlte mich wie in einer Sackgasse. Ich hatte viele andere Menschen in ähnlichen Situationen gecoacht aber es war etwas Anderes sich selbst dabei zu begleiten und nicht in die alten Erinnerungen gezogen zu werden. Und dann lud ich spontan 5 Menschen bzw. Lebensaspekte gedanklich zu mir an einen runden Tisch und hörte mir ihre Ratschläge zur jetzigen Situation an. Der Fokus lag sofort auf dem, was mir jetzt guttat, was mich nährte und nicht darauf, eine Friedensbrücke zu bauen, die ohne gemeinsamen Einsatz sofort zusammenstürzen würde. 
Kurz nach diesem hilfreichen Gedankenspiel kam ich bei meinem heutigen Tagesziel an. Da meine Füße immer noch geschwollen waren, war klar, dass 20 km an diesem Tag reichten, zusätzliche 18 wären zu viel gewesen. In der Herberge traf ich einen netten Spanier, der versuchte, die Herbergsmutter von Taras Bleiben zu überzeugen. Aber sie war sehr deutlich, dass das in ihrer Herberge nicht ginge. Völlig entmutigt sprach er mir sein Bedauern aus. Ohne groß zu überlegen schaute ich ihn an und meinte zum Abschied, es geht einfach nur darum, zu vertrauen. Und ohne auch nur daran zu zweifeln, dass wir eine Unterkunft finden würden, ging ich von einem Hotel zum nächsten, nur um zu erfahren, dass sie bereits geschlossen hatten. Aber nach 5 Versuchen hatte ich einen Spanier an der Sprechanlage, der mich bat, vor dem Hotel zu warten. Einige Minuten später erschien er, sah Tara, die wieder hingebungsvoll auf dem Rücken lag und dann telefonierte er kurz, beschrieb Tara offensichtlich als sehr ruhigen Hund und führte mich dann durch die Stadt zu einem Hotel, in dem wir übernachten konnten.
Nachdem ich geduscht hatte, setzte ich mich vor der Kirche in ein leeres Café und nur wenig später kamen andere Pilger, die ich bereits vorher getroffen hatte und es war wieder ein sehr schönes und völlig selbstverständliches Zusammensein. Auch Corona und die Auswirkungen wurde hier wieder selbstverständlich thematisiert. Ein Niederländer beschrieb wie sein Vater einen Tag nach der von seinem Arzt propagierten Impfung schwer erkrankt und an den Impffolgen gestorben war. Wie konnte bei solchen Nebenwirkungen eine gesetzliche Impfpflicht erlassen werden? Wie war das ethisch vertretbar? Und warum konnte auf dem Camino völlig selbstverständlich darüber gesprochen werden und zuhause nicht?

Admin - 22:06:42 | Kommentar hinzufügen

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Am 26.09.22 geht es los...

Gästebuch

Michael Fetzer
12.10.2022 18:15:22
Ups, da machst du ja 'Erfahrungen' im Sauseschritt!
Zum Glück scheinst du koerperlich noch so fit, deine Reise fortsetzen zu koennen. Und vermutlich bist du in dir schon an Punkte gelangt, wo du bisher gar nicht wusstest, dass es sie gibt...
Und ein (oder mehrere) aussergewoehnlicher Schutzengel scheint dich zu begleiten. Gut zu wissen.
Weiterhin gutes Gelingen und auf einen Austausch, der wahrscheinlich Tage dauert :-)
Michael Fetzer
02.10.2022 14:44:04
Hallo liebe Sandra, wahrscheinlich eignet sich Norwegen wie kaum ein anderes Land, im Durchwandern zu sehen - gehen zu lassen - sich erinnern - loszulassen...
Sehen, erspüren, hinein- und hinausgehen. Der Prozess von Lebendigkeit ein- und ausatmen. Sich einlassen, im Tun die Wirkung erfahren und zu neuen Horizonten aufbrechen.
Eigentlich alles ganz einfach :-)

Schön, dass du dir Zeit und Raum nimmst, wieder tiefer einzutauchen: in dich, deine Fragen, deine Schritte, deine Wünsche, deine Perspektiven.
Egal was kommt, es wird gut!
Stärkende Grüße, Michael