Sandra Euringer
Coaching & Training - Kreativtherapie - Yoga Nidra - Self Care - hub2hub

2022-11-13

Geschenke

9.11.22
Am Morgen hatte ich auf das Frühstück verzichtet, nichtsahnend, welche Strecke vor mir lag. Ich konnte mich zwar an vieles auf dem Weg erinnern, aber die Namen sagten mir mittlerweile wenig. Ich hatte ab Carrion de los Condes eine Strecke von knapp 18 km vor mir, auf der es weder Wasser noch sonstige Verpflegungsmöglichkeiten gab. Aber das merkte ich erst unterwegs als mir die schnurgerade Sandstraße dann doch bekannt vorkam. Das letzte Mal war ich sie bei knapp 40 Grad im Sommer gelaufen. Damals hatte einer der Reifen meines umgebauten Kinderwagens einen Platten bekommen und ich erinnere mich noch gut, wie ich mich auf die Vorstellung einer längeren Zwangspause bei Hitze, keinem begeisterten 2-Jährigen, Entladen des Wagens und anschließendem Reifenflicken eingestellt hatte. Kurz darauf hatten mich 2 ältere französische Ehepaare überholt, die beiden Frauen liefen weiter, die Männer schauten sich meinen Reparaturbeutel an und ruck zuck eh ich mich versah hatten sie den beschädigten Reifen mit Reifenspray soweit repariert, dass ich problemlos weiterlaufen konnte. Die Erinnerung flog vorbei und ich mit ihr.
Es gibt Tage, an denen die Wahrnehmung des Laufens völlig verschwindet. Einfach hier, einfach jetzt. Nach 3 Stunden kam ich bereits in Calzadilla de la Cueza an. Direkt am Dorfeingang lag eine Pilgerherberge mit nettem Cafe. Es spielte entspannte Musik, die Sonne war angenehm warm und ich genoss mein spätes Frühstück mit Eden, aus Irland, den ich bereits öfter getroffen hatte und der kurz nach mir angekommen war. Tara genoss es auch und wurde von den meisten Pilgern erstmal ausgiebig gekrault.
Wir liefen noch knapp 9 km weiter und bekamen in der Templerherberge ein eigenes Zimmer, ein leckeres Abendessen und am Ende kümmerte sich die Herbergsmutter noch um meine nächste Unterkunft, denn sie meinte, dass es mit Hund schwierig werden könnte.

10.11.22
Einer der großen Unterschiede im Vergleich zu meiner Pilgerreise in Norwegen war bzw. ist, dass mir Menschen auf dem Weg immer wieder ein „Buen Camino“ zurufen, aus dem Auto wird mir zugewinkt, Lasterfahrer hupen und Tara bekommt sogar Küsschen zugeworfen. Das ist ein anderes Pilgern. Und das macht auch Spaß! Trotzdem kann ich gut bei mir sein, denn es passiert ja nicht ständig.
Gegen Mittag merkte ich, dass mein linker Fuß deutlich angeschwollen war und ich beim Laufen versuchte, ihn zu entlasten. Ich ging von Durchblutungsstörungen aus, verursacht durch eine zu starke Belastung – und möglicherweise auch zu vielen Süßigkeiten und Café-Stopps. Dann traf ich auf Barbara, französisches Sprachgenie und nebenbei auch Trauma-Therapeutin. Ruck zuck hatte ich meine Diagnose: meine Schwellungen hingen mit einer traumatischen Erfahrung mit meinem Vater im Alter von 13 Jahren zusammen. Ist das Muster erst einmal erkannt, kann es endgültig aufgelöst werden und dann würden auch meine Schwellungen im linken Fuß verschwinden. So einfach sei das und dann wollte sie mir auch gleich noch ihren Podcast nennen, damit ich die Info weitergeben könnte.
Gut, ich ließ das sacken, ging in Resonanz und spürte keine Verbindung zu einer traumatischen Erfahrung mit 13 Jahren. Mein Fuß brauchte Entlastung und ich musste die Durchblutung anregen, das war zumindest meine Diagnose.
Die öffentliche Pilgerherberge war auf Spendenbasis und wurde nicht betreut. Die Räume waren dichtgepackt mit Stockbetten und ich wusste, dass das für Tara einfach zu eng war und beschloss meine Isomatte im Aufenthaltsraum auf einer Steinbank auszubreiten und Taras Schlafsack daneben. Das würde zwar bedeuten, dass ich als letzte schlafen und als erste aufstehen müsste, aber so hoffte ich dem Schnarchlärm zu entkommen. Zwischendurch tauchte dann doch ein Herbergsvater auf und meinte Tara könne auf keinen Fall mit mir im Aufenthaltsraum bleiben aber je länger er Tara streichgelte desto mehr wurde es zu einem „normalerweise geht das aber nicht“ und wir konnten bleiben. Mein Wunsch, dem Schnarchlärm zu entkommen, ging leider nicht Erfüllung, da die Türen offenstanden und so wurde es zu einer mehr oder weniger durchmeditierten Nacht.

11.11.22
Ich startete mit einem wunderschönen Sonnenaufgang und immer noch humpelnd. Wie an den anderen Tagen auch, hatte ich vor dem Loslaufen willkürlich die Yogasutren aufgeschlagen: In 1.17 ging es um die Erfahrung von Samadhi (mit Erkenntnis) in der Begleitung von Denken, Überlegen, Freude und reinem Ich-Gefühl. Sukadev stellt in seinem Buch in diesem Zusammenhang eine Meditationstechnik vor, die über das Bewusstsein des eigenen Körpers die Erfahrung weiter ausdehnt zu dem Bewusstsein außerhalb des Körpers. Möglich ist diese Form der Meditation auch indem sie Themen formuliert, über die meditiert wird: zunächst über Gegenstände, dann über Urprinzipien wie z.B. Chakren, hin zu dem Gefühl reiner Liebe und der Erfahrung von „ich bin“.
2016 bekam ich von meiner Yoga-Nidra Lehrerin in Indien einen älteren Klienten zugeteilt, der ihrer Meinung nach im Sterben lag. Swami Giridhara hatte vor mehreren Jahren einen schweren Unfall erlebt. Danach war er auf einer Seite erblindend, hatte einen Arm amputiert bekommen und in einem Bein eine lange Metallschiene, die ihm das Gehen erschwerte. Er hatte täglich starke Schmerzen, v.a. auch Phantomschmerzen in seinem nicht mehr existierenden Arm. Geistig war er bei klarem Bewusstsein. Er war ein Swami, d.h. es kamen immer wieder Menschen zu ihm, um ihn um spirituellen Rat zu fragen. Und so begann eine spannende Freundschaft, die auch immer noch besteht. Ich schlug ihm damals vor, dass ich mit ihm vormittags arbeiten würde, während ich am Nachmittag zu ihm kommen würde, um von ihm zu lernen. Das schaffte für uns beide eine gute Basis für einen wertschätzenden und ehrlichen Austausch. Ich hatte ihm damals auch von meinen ersten Erfahrungen auf dem Camino erzählt; wie ich plötzlich nicht mehr nur im Bewusstsein meines Körpers, sondern in einem Bewusstsein war, dass viel mehr umfasste, in dem ich alles war und ich, Sandra, war einfach ein Teil davon. Während dieser ersten Pilgerreise war ich nach meiner ersten Erfahrung immer wieder in diesen Zustand eingetreten, aber ich konnte ihn nicht kontrolliert hervorrufen.
Swami Giridhara meinte damals es sei ganz einfach: Stell dir vor du bist ein Radio und genauso wie wenn du eine bestimmte Frequenz für einen Sender wählst, so wählst du deine Konzentration für die Verbindung, die du erfahren möchtest. Wenn du mit einem Baum in Verbindung treten willst, dann werde zur Empfangsstation.
Letztlich ist es eine andere Form der Beschreibung von Sukadevs Meditationstechnik. Wichtig dabei ist, dass die Konzentration stark fokussiert und die Haltung erwartungsfrei bleibt. Und mit entsprechender Übung funktioniert es und kann bewusst hervorgerufen werden.
Trotz meiner mittlerweile beiden geschwollenen Füße kam ich gut voran, fand eine Pension für Tara und mich, bummelte noch durch das belebte Calzadilla de los Hermanillos und beschloss nach der letzten Nacht einen Mittagsschlaf zu machen und meinen Füssen eine Erholungspause zu geben.

12.11.22
Ich startete mit Pranayama-Atemarbeit um die Blutzirkulation anzuregen, ging frühstücken und war entsprechend spät unterwegs. Unterwegs traf ich kaum andere Pilger und hatte Zeit weiter mit der Meditationstechnik vom Vortag zu üben. Das Wetter war traumhaft schön und angenehm warm.
In den Ortschaften waren wir bisher häufig an umzäunten Grundstücken mit bellenden Hunden vorbeigekommen, aber da sie umzäunt waren hatte mich das nicht weiter gestört. Als wir wieder an einer Villa mit hohen Gitterzäunen vorbeikamen lief der Schäferhund laut bellend am Zaun entlang und als er am Gittertor ankam sprang er in die Höhe und öffnete mit seinen Pfoten das Tor, stürzte auf Tara zu und biss sie in den Hals. Weder Tara noch ich waren darauf gefasst und meine erste Reaktion war Angriff mit Gebrüll. Daraufhin verschwand er wieder hinter dem Gartentor und ich drückte immerhin wieder die Klinke hinter ihm zu und schnappe mir einen Stein, mit dem ich ihn mit erhobener Hand und laut brüllend weiter bedrohte. Vor Jahren hatte ich das in Ecuador im Zusammenhang mit vielen streuenden Hunden gelernt und es hatte immer Wirkung gezeigt. Ich wusste sehr wohl, dass ich wenig Chancen gegen einen Schäferhund hatte, aber das ließ ich ihn mit meiner Haltung nicht wissen. Tara war soweit ich sehen konnte ok und so beeilte ich mich, dass wir weiterkamen. Erst im nächsten Dorf ließ ich den Stein wieder los.
Ansonsten verlief unser Weg aber sehr friedlich. Wir kamen am frühen Nachmittag in Leon an, Tara bekam einen Hundeknochen, ich machte Picknick und wollte eigentlich gleich weiterlaufen, da ich große Städte beim Pilgern lieber meide. Leon ist wunderschön, aber in meinem Pilgeroutfit fühlte ich mich eher fehl am Platz und die Kirchen und Museen konnte ich wegen Tara auch nicht besuchen.  Dann stellte sich heraus, dass keine der Übernachtungsmöglichkeiten im weiteren Umkreis von 15 km Hunde aufnahm oder bereits geschlossen hatten. Und so blieben wir in Leon und genossen die Nachmittagssonne in einem der vielen kleinen Parks.

13.11.22
Kurz nach Leon mussten wir uns entscheiden: entweder für die kürzere Variante direkt an der Schnellstraße entlang oder die längere über kleine Dörfer und Buschlandschaft. Nach zwei Tagen sollten beide Varianten wieder aufeinandertreffen. Ich wählte die längere Variante, da ich Tara dann frei laufen lassen konnte und war wieder die meiste Zeit alleine unterwegs. Später traf ich im Dorf und in der Herberge noch drei weitere Pilger aber offensichtlich hatten die meisten anderen die kürzere Variante gewählt.
Während des Laufens hielt plötzlich auf der wenig befahrenen Sandstraße ein Auto neben mir. Das Pärchen sprach nur Spanisch und ich konnte einfach nicht verstehen was sie meinten. Für mich klang es so, als müsste ich weiter hinten etwas verloren haben … aber als sie ihren Laderaum öffneten, war alles klar: Sie hatten uns offensichtlich in einer der Dörfer gesehen und waren uns mit ihrer Golden Retriever Hündin nachgefahren. Die beiden Hündinnen begrüßten sich wie alte Freundinnen und das mitten auf der Straße … ein Motorradfahrer hielt zum Glück noch rechtzeitig an und wartete das Begrüßungsritual der beiden ab. Einfach schön – ein kleines Highlight am Weg!
Ich fühlte große Dankbarkeit, dass ich hier sein kann, einfach laufen, einfach sein, mit dem was ist … eigentlich nicht viel und gleichzeitig das schönste Geschenk.

Admin - 19:19:00 | Kommentar hinzufügen

Am 26.09.22 geht es los...

Gästebuch

Michael Fetzer
12.10.2022 18:15:22
Ups, da machst du ja 'Erfahrungen' im Sauseschritt!
Zum Glück scheinst du koerperlich noch so fit, deine Reise fortsetzen zu koennen. Und vermutlich bist du in dir schon an Punkte gelangt, wo du bisher gar nicht wusstest, dass es sie gibt...
Und ein (oder mehrere) aussergewoehnlicher Schutzengel scheint dich zu begleiten. Gut zu wissen.
Weiterhin gutes Gelingen und auf einen Austausch, der wahrscheinlich Tage dauert :-)
Michael Fetzer
02.10.2022 14:44:04
Hallo liebe Sandra, wahrscheinlich eignet sich Norwegen wie kaum ein anderes Land, im Durchwandern zu sehen - gehen zu lassen - sich erinnern - loszulassen...
Sehen, erspüren, hinein- und hinausgehen. Der Prozess von Lebendigkeit ein- und ausatmen. Sich einlassen, im Tun die Wirkung erfahren und zu neuen Horizonten aufbrechen.
Eigentlich alles ganz einfach :-)

Schön, dass du dir Zeit und Raum nimmst, wieder tiefer einzutauchen: in dich, deine Fragen, deine Schritte, deine Wünsche, deine Perspektiven.
Egal was kommt, es wird gut!
Stärkende Grüße, Michael